Eine etwas andere Gemeindegeschichte
Reisiswil
Wir sind eine Kleinstgemeinde mit 200 Einwohnern, einer Schule, einer Käserei und einer Wirtschaft. Und in diesem Dreieck spielt sich unser Alltag ab.
Die Geschichte unserer Gemeinde ist ebensolang und verworren wie die unserer Nachbargemeinden. Reisiswil wird erst relativ spät erwähnt, und auch dann nur zufällig, warum denn eigentlich sonst, im Rahmen eines Erbganges von Mächtigen ihrer Zeit. Und eine solche Erwähnung bedeutete ja selten etwas Gutes für die Betroffenen.
Es wird erst Richoltswilare, später Richiswyl genannt, die Siedlung des Reichholt aus einer Zeit, da der Bevölkerungsdruck gross genug war, um Siedler bis in unsere abgelegene Gegend zu zwingen. Dann wandelte sich der Name über Reichiswyl zu Reisiswyl, und der Reisende auf der Schützenfahne von 1881 beruht also auf einem Missverständnis, das wir unsern Vorfahren allerdings nicht vorhalten wollen: Sie würden über uns auch den Kopf schütteln, wenn sie mitansehen müssten, was wir so alles anstellen.
Wir sind recht zentral abgelegen: wer schon mal geflogen ist, wird sich an die scharfe Kurve erinnern mitten in der Schweiz, das war das Luftstrassenkreuz, das direkt über uns liegt. Am Boden sind wir – zum Glück – etwas weniger gut erreichbar, nur am Sonntag finden einige stressgeplagte Ballungsgebietbewohner den Weg zu uns (weil bei ihnen der Bevölkerungsdruck wieder den schon erwähnten Punkt erreicht hat).
Wir haben alles mitgemacht, was wir mitmachen mussten, gehörten bald zu diesem, bald zu jenem Kloster (erst zu St. Gallen, dann zu St. Urban), bald zu einem weltlichen Herrn (den Freiherren von Grünenberg), lieferten den Vogthafer hierhin (1504 – 1798 nach Wangen), den Zehnten dorthin (dem Abt von St. Urban), ohne uns um das Getriebe der grossen Welt zu kümmern, gehörten bald zu dieser, bald zu jener Gemeinde (bis 1798 zu Rohrbach, dann zu Gondiswil) oder Kirchgemeinde (bis 1798 Rohrbach, dann Melchnau), bis wir um 1815 zur selbständigen Gemeinde wurden, bzw. erst mal zu einer solchen zusammenwachsen mussten. Aber noch immer ist die eine Gemeindehälfte nach Huttwil ausgerichtet, die anderer nach Melchnau/Langenthal, sogar Zuzüger halten sich an die hergebrachte Orientierung!
Zu Auswanderungszeiten hatten auch wir viel mehr Bewohner, als der Boden und die magere Gemeindekasse ertrugen, und schoben fleissig Armengenössige, also Wirtschaftsflüchtlinge, in die neue Welt ab. An der Industrialisierung hätten wir beinahe mitgemacht, in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts bestanden für kurze Zeit Fabrikationsbetriebe Ulli und Leuenberger für Pferdehaarspinnerei und Strohflechterei. Die Produktion erfolgte meist in Heimarbeit. Noch immer gibt es in den alten Bauernhäusern den Webkeller, wenn auch ohne Webstuhl, und niemand trauert der tuberkulose- und rachitisträchtigen Zeit nach.
Der grosse Aufschwung der Sechzigerjahre wurde bei uns erst mal zum grossen Abschwung: Die Bevölkerung schmolz dahin, andernorts war es leichter zu leben, die unzähligen Verdingkinder blieben aus, wer Pech hatte, musste das elterliche Heimwesen übernehmen, wer Glück und einen guten Kopf hatte, durfte etwas lernen. Wir wurden Ballungsgebietbelieferer, das Leben im Block und in der Nähe der Einkaufszentren hatte eine enorme Anziehungskraft, der Glaube an die schöne neue Zukunft war ungebrochen.
Das Pendel schlägt immer wieder zurück; unsere Bevölkerungszahl begann schon zu steigen, bevor jedermann vom Ausstieg aus diesem und jenem sprach.
Wir sind in vielem altmodisch und recht rückständig und sind dadurch ungewollt an der Spitze der Entwicklung.
Quelle: Jakob Willimann